„Er hat sich wohlgefühlt“
„Gastarbeiter“ wie Juan Sánchez Linares befeuern das Wirtschaftswunder
Anfang der 1960er-Jahre rekrutiert die deutsche Wirtschaft zahlreiche Arbeitskräfte aus Südeuropa – zunächst zeitlich befristet. Einer davon ist Juan Sánchez Linares aus Madrid, dessen gut dokumentierte Geschichte exemplarisch für viele ‚Gastarbeiter‘ steht.
Juan Sánchez Linares wird 1934 im Südwesten Spaniens, unweit der portugiesischen Grenze, in einem kleinen Bauerndorf geboren. Nach dem Militärdienst in Madrid bleibt er in der Hauptstadt, weil er sich dort bessere berufliche Chancen ausrechnet. Ein Kinobesuch ändert dann sein Leben: Im Vorspann läuft ein Werbefilm, in dem Deutschland Arbeitskräfte sucht. Kurz entschlossen meldet er sich bei der zuständigen Behörde – und erhält bei Wieland einen auf ein Jahr befristeten Arbeitsvertrag. Seine Tochter Julia Sánchez Morales, noch heute bei Wieland beschäftigt, erinnert sich, wie er das Wagnis einstufte: „Mein Vater hat gesagt, ich probiere es einfach. Wenn es nichts ist, kann ich immer noch zurückkommen.“
Und so besteigt er im März 1961 einen Zug von Madrid nach Ulm, wo er am Hauptbahnhof zusammen mit anderen Spaniern von einer Wieland-Mitarbeiterin in Empfang genommen wird. Untergebracht wird er in einfachen Wieland-Unterkünften in Ulm am Staufenring, in einem 4-Bett-Zimmer, für das ihm monatlich 20 D-Mark berechnet werden. Beschäftigt wird er im Ulmer Rohrzug als „Metall-Hilfsarbeiter“, der Stundenlohn beträgt 2 Mark und 8 Pfennig. Sein Arbeitsvertrag erhält den bemerkenswerten Passus, der spanische Arbeitnehmer solle die Möglichkeit haben, „an Sonn- und Feiertagen den katholischen Gottesdienst zu besuchen.“ Nicht nur dieses Entgegenkommen gefällt ihm bei Wieland, sondern auch das familiäre Betriebsklima. Juan Sánchez Linares blieb in bester Erinnerung, dass Dr. Eychmüller samstags oft durch das Werk gegangen ist und „ganz normal“ mit den Leuten gesprochen hat, über Berufliches wie Privates. „Mein Vater hat sich wohlgefühlt“, kann Julia Sánchez Morales noch heute bestätigen.
1967 lernt er bei einem Urlaub in seinem Heimatdorf – wo man ihn nun „den Deutschen“ nennt, seine spätere Frau kennen und lieben. Nach der Heirat kommt sie nach Ulm, mit dem gleichen Gedanken, eventuell nur ein Jahr zu bleiben. Und obwohl ihr die Umstellung schwerfällt und sie besonders unter den kalten Wintern leidet, bleiben sie und ihr Mann weitere 31 Jahre in Deutschland.
Mit Ehrgeiz, Fleiß und Freude an einigen typisch deutschen Tugenden wie Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit erlernt Juan Sánchez Linares nicht nur schnell die deutsche Sprache, sondern bringt es später auch zum Gruppenführer. Selbst zu Hause macht er sich geschäftliche Notizen und zieht seine vier Kinder als Dolmetscher und Berater hinzu.
Als Rentner kehrt Juan Sánchez Linares mit seiner Frau nach Spanien zurück. Ihm war es wichtig, dass seine Kinder die Schulzeit und Ausbildung in Deutschland absolvieren. In Madrid kauft er ein Haus als Winterresidenz. Bei Besuchen in seinem Heimatdorf bleibt er bis zu seinem Tod 2018 “El alemán con el coche” - “Der Deutsche mit dem Auto”.
D.I.E. Firmenhistoriker (Aalen) – Herr Dr. Rainer Lächele und Frau Julia Langholz im Interview mit Frau Julia Sánchez Morales,
Tochter von Herrn Juan Sánchez Linares.